Stell dir vor, du stehst morgens auf und möchtest eigentlich entspannt in den Tag starten. Doch dein Körper fühlt sich schwer an, dein Kopf ist voller Gedanken, und trotzdem bist du nicht wirklich wach. Als du auf die Uhr schaust, bemerkst du, dass der Wecker nicht geklingelt hat – du hast ihn vor dem Schlafengehen einfach vergessen zu stellen.
Schlaftrunken gehst du in die Küche, um Kaffee zu machen, doch die Kaffeedose ist nirgends zu finden. Während du danach suchst, klingelt dein Handy. Du hörst eine Sprachnachricht ab, stellst gleichzeitig einen Topf mit Milch auf den Herd und schaltest die Platte an. Du beginnst per Textnachricht zu antworten. Plötzlich erscheint eine E-Mail-Benachrichtigung, die du reflexartig öffnest und liest.
Gerade vertiefst du dich in die E-Mail, als dir wieder die Milch einfällt. Doch es ist zu spät – sie ist bereits übergekocht und läuft über den Herd. Und der Kaffee? Den hast du noch nicht aufgesetzt.
Arbeiten mit einem zerstreuten Kopf
Wenn du arbeitest, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder fühlt sich dein Kopf an, als würde er unter Wasser oder im Nebel stehen – oder du kannst dich auf nichts anderes konzentrieren als auf eine einzige Sache, in die du dich obsessiv vertiefst.
Dazwischen gibt es wenig:
Du versuchst, eine Aufgabe zu bearbeiten, doch dein Gehirn fühlt sich träge an. Der Bildschirm blendet, Geräusche von draußen lenken dich ab. Eine Nachricht ploppt auf, du klickst darauf, verlierst den Faden und findest dich zehn Minuten später auf einer völlig anderen Website wieder. Die Uhr tickt, die Zeit läuft – doch dein Gehirn fühlt sich an wie ein altes Radio, das ständig zwischen verschiedenen Sendern wechselt.
Oder du tauchst so tief in eine Aufgabe ein, dass du alles um dich herum vergisst. Zeitgefühl, Hunger, Durst – alles verschwindet. Stunden später bist du erschöpft, aber aufhören fühlt sich unmöglich an, als würdest du versuchen, einen Motor abrupt abzustellen, der noch auf Hochtouren läuft.
Zwischendurch klingelt das Telefon. Der Ton fährt dir durch Mark und Bein. Dein Herzschlag schnellt hoch – eine völlig übertriebene Reaktion, denkst du dir, aber du kannst es nicht abstellen. Nach dem Gespräch brauchst du einen Moment, um dich wieder zu sammeln.
Erschöpft, aber unfähig zur Ruhe
Am Nachmittag merkst du, dass dein Energielevel sinkt. Doch anstatt dich hinzulegen, scrollst du durch Social Media oder einer Shopping-App, Dating-App, News – unfähig, wirklich Pause zu machen. Du bist erschöpft und gleichzeitig ruhelos. Der Tag fühlt sich einerseits zu voll an – und doch hast du das Gefühl, nichts wirklich geschafft zu haben. Alles ist irgendwie zu viel, und gleichzeitig fühlt es sich an, als fehle etwas, so wie innere Leere.
Einkaufen als Reizüberflutung
Nach der Arbeit willst du „nur kurz“ einkaufen gehen. Doch sobald du im Supermarkt bist, fühlst du dich überwältigt. Die lauten Geräusche, die bunten Verpackungen, die Menschen, all ihre Bewegungen und Emotionen – alles trifft dich gleichzeitig. Du stehst ratlos zwischen den Regalen, vergisst die Hälfte der Dinge auf deiner Einkaufsliste (die du ohnehin zu Hause vergessen hast) und kommst schließlich erschöpft heim – oft ohne das, was du eigentlich brauchtest.
Der Abend – Erschöpfung ohne Erholung
Ein Spaziergang wäre gut. Frische Luft, Ruhe, Erdung. Doch die Idee, noch einmal aufzustehen, fühlt sich unmöglich an. Also bleibst du auf der Couch, während dein Kopf weiterarbeitet. Dein Körper ist müde, aber dein Geist dreht sich in Schleifen. Einschlafen? Schwierig. Zur Ruhe kommen? Fast unmöglich. Ablenkung hilft, z.B. eine Serie oder ein Film, aber führt zu noch mehr Reizen. Und um die Reizüberflutung, die innere Unruhe trotz Erschöpfung, das schlechte Gewissen und die innere Leere zu bewältigen oder zu dämpfen, greifst du zu noch mehr Ablenkung oder zum emotionalen Essen oder zu Substanzen wie z.B. Alkohol oder Cannabis.
Der tägliche Kampf mit Struktur und Selbstmanagement
Du verlegst ständig Dinge: Schlüssel, Handy, Geldbeutel, Brille. Oder du vergisst: Geburtstage, Termine, was du gerade tun wolltest, wichtige E-Mails zu beantworten.
To-Do-Listen helfen manchmal – aber nur, wenn du es schaffst, dich wirklich daran zu halten. An manchen Tagen gibt dir eine klare Struktur Halt. An anderen Tagen fühlt sie sich wie eine erdrückende Last an. Dann fängst du mit den Aufgaben gar nicht erst an, weil die Planung zu kompliziert erscheint oder die Aufgaben langweilig und unangenehm sind. Oft hilft nur der Druck der letzten Minute.
Du kommst oft zu spät oder schätzt die Zeit falsch ein – manchmal zu früh, manchmal zu spät. Flüchtigkeitsfehler passieren ständig, was dann dazu führt, dass du an anderer Stelle in Panik ausbrichst, weil du denkst, du hättest etwas vergessen, verloren oder falsch gemacht. Manchmal völlig grundlos – aber dein gesamtes System gerät in Aufruhr.
Und weil du zur Kompensation oft einen hohen Selbstanspruch hast und zu Perfektionismus neigst, versuchst du, dich ständig anzupassen, um nicht aufzufallen oder Fehler zu vermeiden. Das strengt an. Also ziehst du dich zurück – entweder aus Scham oder einfach, weil du von all den vielen Reizen erschöpft bist.
Was hilft – egal, was die Ursache ist?
1. Feste Routinen schaffen, um weniger entscheiden zu müssen
Jede Entscheidung kostet Energie. Je mehr Routinen du hast, desto weniger musst du täglich überlegen. Wann stehst du auf? Wann und was isst du? Wann machst du Pausen? Was ziehst du an? Halte dich daran, auch wenn es schwerfällt. Keep it simple.
2. Reize gezielt steuern
Weniger Lärm, weniger Ablenkung. Arbeite mit Noise-Cancelling-Kopfhörern, dimme Lichter, reduziere visuelles Chaos. Mehrmals täglich bewusste kurze Pausen einlegen, in denen keine Reize aufgenommen werden (Augen schließen, tief atmen, Ruhe genießen). Dein Nervensystem dankt es dir.
3. Pausen einplanen, bevor du erschöpft bist
Nicht erst aufhören, wenn dein Kopf schon raucht. Baue bewusst Pausen ein – echte Pausen, nicht noch mehr Reize. Schau aus dem Fenster, bewege dich, atme tief durch.
4. Kleinere Ziele setzen
Statt „Wohnung aufräumen“ → „Heute den Schreibtisch aufräumen“.
Statt „Steuer erledigen“ → „Heute nur die Unterlagen heraussuchen“.
Weniger Druck bedeutet weniger Überforderung.
5. Bewegung nutzen, um aus der Erstarrung zu kommen
Wenn du dich leer und träge fühlst, hilft Bewegung. Spazieren gehen, leichtes Dehnen, einmal durchstrecken oder schütteln. Dein Körper ist der Schlüssel, um dein Nervensystem wieder in Gang zu bringen.
6. Das Nervensystem aktiv regulieren
Ein überreiztes oder unterreguliertes Nervensystem kann nicht allein durch Gedanken zur Ruhe kommen. Achtsamkeitsübungen, bewusstes Atmen oder gezielte Bewegungen können dabei helfen, innere Spannungen abzubauen. Methoden wie die 4-7-8-Atemtechnik, sanfte Dehnungen oder Techniken aus dem Somatic Experiencing ermöglichen es, Anspannung abzubauen und wieder mehr Präsenz im eigenen Körper zu finden.
7. Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl stärken
Der erste Schritt zu einem leichteren Alltag ist, sich selbst nicht länger als „falsch“ zu betrachten. Egal, ob es AD(H)S, Hochsensibilität oder eine Nervensystem-Dysregulation ist – diese Eigenschaften sind keine Defizite, sondern ein Teil von dir. Wenn du lernst, dich mit diesen Besonderheiten anzunehmen, kannst du anfangen, Wege zu finden, die wirklich für dich funktionieren. Statt dich für deine Fehler abzuwerten, hilft es, mit mehr Selbstmitgefühl auf dich selbst zu schauen.
Struktur ist kein Gefängnis – sie ist eine Brücke zur Freiheit
Viele Menschen meiden Struktur, weil sie denken, sie würde ihre Spontaneität einschränken. Doch für Menschen mit einem empfindlichen Nervensystem ist Struktur keine Einschränkung – sondern eine Brücke zur Freiheit.
Denn ohne Struktur ist jeder Tag ein neuer Kampf. Mit Struktur gibst du deinem Kopf eine Richtung, ohne ihn zu überfordern.
Ganz egal, ob du eine Diagnose hast oder nicht – Selbstmanagement ist eine Fähigkeit, die jeder Mensch lernen kann. Nicht, um perfekt zu funktionieren. Sondern, um sich selbst das Leben ein wenig leichter zu machen.