Polyvagal-Theorie, Fawning und co-abhängige Beziehungsgestaltung
- Alexandra Grömmer
- 30. Jan.
- 2 Min. Lesezeit
Neben den klassischen Stressreaktionen Kampf (Fight), Flucht (Flight) und Erstarren (Freeze) gibt es eine weitere Überlebensstrategie: das sogenannte Fawning (Anpassen oder Beschwichtigen). Diese Reaktion tritt auf, wenn das Nervensystem eine Bedrohung wahrnimmt, aber weder Flucht noch Kampf möglich sind. Das Nervensystem hat möglicherweise gelernt, dass Anpassung und Unterwerfung die sichersten Strategien sind, um potenzielle Konflikte zu vermeiden und die emotionale Stabilität und Verfügbarkeit des Gegenübers zu sichern.
Der Begriff "Fawning" wurde vom Psychotherapeuten Pete Walker geprägt, der auf die Behandlung komplexer Traumata spezialisiert ist. Er identifizierte Fawning als die vierte "F"-Reaktion auf Trauma, neben Kampf (Fight), Flucht (Flight) und Erstarren (Freeze). Diese Reaktion beschreibt ein Verhalten, bei dem Betroffene versuchen, durch Unterwerfung, übermäßige Freundlichkeit oder das Befriedigen der Bedürfnisse anderer Sicherheit zu erlangen.
Polyvagal-Theorie und Fawning
In der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges wird das autonome Nervensystem in drei Hauptzweige unterteilt: den ventralen Vagus, den Sympathikus und den dorsalen Vagus.
Der ventrale Vagus ist mit sozialem Engagement und sicheren Bindungen verbunden, während der dorsale Vagus mit Immobilisierung und Dissoziation in Verbindung steht. Beim "Fawning" bleibt die Person sozial engagiert, was auf eine Aktivierung des ventralen Vagus hinweist. Dieses Engagement erfolgt jedoch aus einem Gefühl der Bedrohung oder Unsicherheit heraus, was auf eine gleichzeitige Aktivierung des Sympathikus oder des dorsalen Vagus hindeutet. Diese gleichzeitige Aktivierung kann zu einem Zustand führen, in dem die Person äußerlich ruhig und angepasst erscheint, innerlich jedoch in Alarmbereitschaft ist.
Co-abhängige Beziehungsgestaltung durch Fawning
Menschen, die stark zur Fawning-Reaktion neigen, entwickeln oft co-abhängige Beziehungsmuster, in denen sie ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen systematisch zugunsten anderer vernachlässigen.
In co-abhängigen Beziehungsmustern werden eigene Bedürfnisse und Grenzen oft zugunsten anderer aufgegeben, indem man sich unterwirft, übermäßig freundlich verhält oder die Wünsche des Gegenübers erfüllt, um Sicherheit und Harmonie zu wahren.
Typisches Verhalten im Alltag
Übermäßige Rücksichtnahme
Die Person sorgt sich übermäßig darum, wie sich der andere fühlt.
Beispiel: Sie entschuldigt sich reflexartig für Dinge, die nicht ihre Schuld sind, um eine Eskalation zu vermeiden.
Schwierigkeiten mit eigenen Bedürfnissen und Grenzen
Die eigene Meinung wird selten geäußert oder sofort relativiert, wenn Widerspruch droht.
Beispiel: „Mir ist es eigentlich egal, was wir essen. Hauptsache, du bist zufrieden.“
Übermäßiges Bemühen, Konflikte zu vermeiden
Auch bei ungerechtfertigtem oder toxischem Verhalten des Partners wird nicht widersprochen.
Beispiel: Der Partner macht eine abwertende Bemerkung, und statt sich zu wehren, lächelt die Person unsicher und wechselt das Thema.
Körpersprache & Gesichtsausdruck
Gehemmte Körperhaltung (leicht nach vorne gebeugt, wenig Platz einnehmend).
Nervöses Lächeln, das Unsicherheit signalisiert.
Häufig Blickkontakt suchend, um zu überprüfen, ob der andere „zufrieden“ ist.
Vermeidender Blick nach unten oder zur Seite, wenn es um eigene Wünsche geht.
Fazit
Co-abhängige Beziehungsgestaltung kann dazu führen, dass eine Person ihre eigenen Bedürfnisse verdrängt, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. Dies kann langfristig zu emotionaler Erschöpfung und emotionaler Unsicherheit führen.
Das Verständnis der Fawning-Reaktion im Kontext der Polyvagal-Theorie hilft dabei, die tiefen Mechanismen dieser Anpassungsstrategie zu erkennen. Der Weg aus solchen Mustern erfordert Bewusstwerdung, Grenzsetzung und die Stärkung der eigenen Autonomie, oft mit therapeutischer Unterstützung.